„What Are We Living For“: Interview mit der irischen Regisseurin Lelia Doolan

Deutsch-English (29.05.2025)

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Die Zeit rund um 1968 assoziieren wir jetzt mit dem Aufblühen der Demokratie und Wandlung der Gesellschaft. Diese Zeit hat  aber auch eine andere Seite gehabt. Der brutale Umgang mit Demonstrierenden, ultra-konservative Reaktionen in der Politik, Hetzerei in den Medien… Hinter dem Eisernen Vorhang rollten russische Panzern in die Tschechoslowakei ein; als Protest gegen die Okkupation jede paar Wochen verbrannte sich in Prag öffentlich ein Mensch, 26 Personen insgesamt. Keine der Demokratien der Weltgemeinschaft hat etwas ernsthaft dagegen getan. Man wollte keinen Konflikt mit den Diktaturen, was gar nicht verhindert hat, dass zwei Jahre später eine russische Submarine nur knapp davor war, Nuklearraketen abzufeuern.  Wie kommt es, dass wir diese Zeit rückblickend als Quelle des Aufschwungs sehen? Warum ist sie von den dunkelsten zu den besten Zeiten der jüngeren Geschichte geworden? Weil diese Zeit auch so war. Es gab eine echte Umbruchstimmung, es gab Hoffnung, und es gab eine Zukunft. Eher sah man sich als die erste (und nicht die letzte) Generation, die ein echtes Leben wagte.

Bei meinem Vater gab es eine Viedeokassette mit einem Dokumentarfilm über sowjetische Wissenschaftler und Künstler produziert vom irischen Fernsehen im Jahr 1967. Dieser Film „What we are living for“ unterschied sich so sehr von allem, was ich zuvor über die Sowjetunion gesehen hatte. Ohne jede Propaganda zeigte er eine optimistische Jugend: weltoffen, mit sehr guten Englischkenntnissen, nachdenklich und idealistisch- viel moderner als die heutige russische Jugend. Als mein Vater starb, wollte ich den Film im Internet veröffentlichen und habe die Regisseurin gesucht, um ihre Erlaubnis zu holen. So habe ich Lelia Doolan kennengelernt. Sie hat schnell und sehr herzlich geantwortet. Sie erinnerte sich gut an meinen Vater Anatoly Burshtein, der einer der Hauptprotagonisten war. Ich wollte sie unbedingt treffen. Motiviert haben mich nicht nur ihre Werke, sondern auch die offensichtlichen Parallelen zwischen ihr und meinem Vater.

Beide hatten einen sehr erfolgreichen Start ins Berufsleben: Anatoly Burshtein war mit 30 ein vielversprechender Wissenschaftler und beliebter Dozent an einem der wichtigsten Institute des Landes. Er arbeitete mit den besten Physikern seiner Zeit zusammen und war an der Gründung des Akademischen Städtchens in Sibirien beteiligt. Lelia Doolan absolvierte ein Praktikum im Brecht-Theater in Berlin, und wirkte dann bei der Entstehung von RTE, der ersten irischen öffentlich-rechtlichen Fernsehsender, mit. Mit 30 wurde sie zur Leiterin der Unterhaltungsabteilung und des News-Programms. Beide waren also zur richtigen Zeit am richtigen Ort: Neue Felder, herausragende Persönlichkeiten, Enthusiasmus und Idealismus. Und beide riskierten später aufgrund ihrer Überzeugungen all das und ihre Karrieren.

Anatoly Burshtein war Gründer und Präsident des Clubs „Unter dem Integral“: Ein Ort für Jazz, Tanzen und für öffentliche Debatten. Im nächsten Jahr nach der Filmaufnahme veranstaltete Integral ein Festival verbotener Leidermacher, was von der Moskauer Presse und den Stadtbehörden als beispielloser dissidentischer Akt wahrgenommen wurde. Die Aufnahmen verbreiteten sich im ganzen Land, aber Zukunft meines Vaters als Wissenschaftler war gefährdet. Erst nach der Perestroika konnte er als Professor in der ganzen Welt reisen und an den wissenschaftlichen Konferenzen teilnehmen. 1991 wurde er Professor und Consultant am Department of Chemical Physics am Weizmann Institute of Science in Israel, wo er bis zu seinem Lebensende arbeitete.

Seine Persönlichkeit und seine Überzeugungen änderten sich nie; er versuchte nie, sich dem totalitären System, der sich ändernden öffentlichen Meinung, dem Zeitgeist anzupassen. Dasselbe lässt sich auch über Lelia Doolan sagen.

 Sie gehörte zu den drei Produktionsleitern, die 1969 bei RTÉ aufgrund ihrer Ansichten über die Rolle des staatlichen Fernsehens und aus Protest gegen die politische und kommerzielle Ausrichtung von RTÉ zurücktraten. In dem Buch „Sit Down and Be Counted“ äußerten sie ihre Wut über die Jagd nach Einschaltquoten und den kommerziellen Druck, den die Werbung auf die Programmgestaltung ausübt. Danach war Doolan die erste Frau, die das Abbey Theatre leitete. Sie gründete Community Video in Belfast und ein internationales Festival für nichtkommerzielle Filme in Galway. Sie drehte Filme, darunter -mit 77 Jahren- „Bernadette: Notes on a Political Journey“ über Bernadette Devlin McAliskey, die als „Jeanne d’Arc Nordirlands“ bekannte sozialistische Politikerin und Aktivistin. Für diesen Film gewann sie den Preis für den besten Dokumentarfilm bei den Irish Film and Television Awards. „Schätz weiterhin wütende, rebellische, unbeholfene, schwierige Menschen!”, sagte sie in ihrer Dankesrede.

So viel zur „ersten Generation“ auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs.

Da unser erster E-Mail-Kontakt mit Lelia ein paar Jahre zurücklag, habe ich sie gegoogelt, um herauszufinden, ob sie noch gesund und aktiv ist. Sofort wurde ich fündig: „Die irische Kultur-Wegbereiterin und bekannte Dokumentarfilmerin Lelia Doolan feiert ihren 90. Geburtstag mit einem Fallschirmsprung, der als Spendenaktion für Ärzte ohne Grenzen diente und 28.000 Euro einbrachte“, schrieb die „Irish Times“. Wir haben uns im Mai getroffen und es war ein schönes Erlebnis.

Link auf den Film: https://www.mykeeper.com/BurshteinAnatoly/mementos?mementos=197e6e34-2a8…

Zitiert wurde ein Artikel aus der InZeitung N45, S.4 von Timur Abramovich „Vergiss die Zukunft nicht“ . Ist unter https://www.inzeitung.de/aktuelles/inz45.php   und hier im Skript zu lesen.

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